Sonntag, 8. Juli 2012

Anatevka, Bad Hersfelder Festspiele, 7. Juli 2012

"Angestaubt" war das Adjektiv, das ich im Vorfeld am häufigsten über "Anatevka" gehört und gelesen und - Asche auf mein Haupt - gedacht habe. Irgendwie hat mich das Stück so gar nicht gereizt. Auch nicht mit Michael Schanze in der Hauptrolle.
Aber ich bin Hersfeld geboren und der Stifstbezirk rund um die Ruine war viele Jahre sowas wie mein zweites zu Hause, da bin ich dann doch ein kleines bisschen Lokalpatriotin. Und wer mit eher überschaubaren Erwartungen in ein Musical geht, kann so viel ja auch nicht falsch machen.
Außer überschaubare Erwartungen gehabt zu haben.


Videos : badhersfeldtv

Wer die Handlung nicht kennt, kann sie HIER nachlesen.



Das Bühnenbild bestand auf den ersten Blick aus einem Haufen Gerümpel, auf dem der "Fiedler auf dem Dach" thronte und spielte. Die Darsteller kamen in Alltagsklamotten auf die Bühne, klappten ihre Koffer auf und zogen erst dort ihre weißen Hemden, grauen Schürzen und Kopftücher an. Während sie die erste Ensemblenummer "Tradition" zum besten gaben, begannen sie damit, den vermeintlichen Spermüllberg in seine Bestandteile zu zerlegen. So entstand auf der linken Seite der Bühne die Schneiderei von Mottel, rechts ein Bahnsteig und ein Gasthaus und in den hinteren Teilen der Bühne Häuser des Dorfes.



Während der ersten Szenen blieben alle Darsteller auf der Bühne in ihren selbst aufgebauten Behausungen und beobachteten das Geschehen, so dass sie bei ihren jeweiligen Einsätzen automatisch präsent waren. Ich fand das sehr gelungen, weil es die Verbundenheit der Dorfbewohner nochmal herausstellte.

Meine Perspektive.
Eins noch: Kurzentschlossene wie ich sitzen eher nicht in der ersten Reihe, deswegen bitte immer dran denken: Wer mich begeistert hat, hat das über 39 Stuhlreihen hinweg geschafft.

Zu den Darstellern fällt mir nur ein einziges Wort ein: Großartig. Ein wahnsinnig tolles, harmonisches Ensemble. Ich würde gern auf jeden Einzelnen eingehen, weil alle Figuren so liebevoll gezeichnet und dargestellt waren, aber das würde hier sicher den Rahmen sprengen.



Faszinierend, wie Daniel Dimitrow dem Wachtmeister allein durch seine dunkle, tiefe Stimme und die ruhige, bedächtige Art zu sprechen, etwas derart Bedrohliches verleiht! Den quirligen Kontrast bildete Sylvia Wintergrün als engagierte Heiratsvermittlerin Jente. Stimmt's? Stimmt.


Auch Tevjes Schwiegersöhne waren allesamt eine sehr gute Wahl. Ob nun Rolf Sommer als schüchterner Schneider Mottel, Rasmus Borkowski als Anarchist Perchik oder Jannik Harneit als Fedja. Toll gesungen, toll gespielt. Alle.

Das Gleiche gilt für die Töchter. Franziska Lessing als Zeitel, Milica Jovanovic als Hodel und Lea Isabel Schaaf als Chava. Wobei mir Milica Jovanovic vielleicht noch einen Tick besser gefallen hat, als die anderen beiden.
Marianne Larsen gab eine resolute Golde, die ihre Familie im Griff hat und war der perfekte Gegenpart zu Michael Schanzes Tevje, der trotz seiner Lebensweisheit, einer gewissen Schlitzohrigkeit und der ein oder anderen Zwiesprache mit Gott, so seine Schwierigkeiten mit den "neuen Zeiten" hat.
Seine größte Herausforderung war es vermutlich, NICHT Michael Schanze zu sein. Und das war er auch nicht. Er war mit seinem minimal eingesetzten jiddischen Akzent zu jeder Zeit "Tevje".
Am meisten beeindruckt hat mich allerdings, wie er beim Schlussapplaus nochmal allein nach vorn getreten ist. Die Art und Weise wie er sich unter tosendem Jubel verbeugt hat, war eine Mischung aus unglaublicher Freude über die Publikumsreaktion und... Demut. Geben und nehmen in Perfektion. Anders kann ich's kaum beschreiben.



Besonders im Gedächtnis bleibt einem die Traum-Szene, in der Tevje seiner Golde vorgaukelt, ihre verstorbene Oma wäre ihm erschienen, um ihm zu sagen, dass Zeitel, die ja eigentlich dem Fleischer versprochen war, doch besser Mottel heiraten sollte. Die Dorfbewohner tanzten ganz in Weiß um Oma Zeitel herum, die im Brautkleid aus einer Klappe im Fußboden stieg, während im hinteren Teil der Bühne eine Fruma Sara mit überlangen Armen und Beinen, in einem weißen Kleid aufstieg. Aus irgendeinem Grund musste ich spontan an Nina Hagen denken. Aber - wie gesagt - Reihe 39 ;)


Die Inszenierung, die immer zwischen Leichtigkeit und Melancholie pendelt, hat mir sehr viel Spaß gemacht. Die Atmosphäre in der Ruine ist sowieso immer eine besondere und zu diesem Stück passte sie perfekt.

Übrigens ist das Adjektiv, das ich NACH der Vorstellung am häufigsten gedacht habe "warmherzig", dicht gefolgt von "bittersüß" und "liebevoll". Ich weiß nicht, was besser beschreiben könnte, wie ich das Stück empfunden habe. Vielleicht sollte ich öfter mit "überschaubaren Erwartungen" ins Theater gehen!


Besetzung:
Tevje - Michael Schanze
Golde - Marianne Larsen
Zeitel - Franziska Lessing
Hodel - Milica Jovanovic
Chava - Lea Isabel Schaaf
Jente - Sylvia Wintergrün
Mottel - Rolf Sommer
Schandel - Marina Edelhagen
Perchik - Rasmus Borkowski
Lazar Wolf - Ansgar Schäfer
Motschach - Patrick Imhof
Rabbi - Michael Günther
Mendel - Stefan Stara
Awram - Franz Frickel
Nachum - Frank Watzke
Jussel - Florian Claus
Wachtmeister - Daniel Dimitrow
Fedja - Jannik Harneit
Sascha - Martin Kiuntke / Arthur Büscher
Oma Zeitel - Barbara Goodman
Fruma Sara - Annette Lubosch

Ensemble: Juliane Dreyer, Suzana Novosel, Patrizia Margagliotta, Michael Chadim, Evren Pekgelegen, Adrian Hochstrasser


2 Kommentare:

  1. um mal einen deutschen singer/songwriter zu zitieren, der mich monatelang aus dem radio mit diesem song belästigt hat: "mir fehlen die worte, ich hab' die worte nicht..."

    AntwortenLöschen